Penne statt Hollywood-Liebe

Es sind doch immer die ganz großen Gefühle, die einem überkommen, wenn man ein Geständnis macht. Wenn man die Wahrheit sagt, wenn man sich traut, die Scham zu überwinden. So ist das im Film doch meistens. Und dann gibt es eine Versöhnung, Nähe oder Sex, während die Bitterkeitstränen noch trocknen.

Der eine sagt dem anderen die Wahrheit, öffnet sich, gesteht Zuneigung und der andere ist so gerührt, dass er dem Reumütigen um den Hals fällt. Aber Jonas war kein Hollywoodschauspieler und ich auch nicht.

Was war das für ein Abend in Köln. Ich hatte getanzt, getrunken, alles war gut. Anne hatte mich mit in den Club geschleppt, eine Art Halle, in der Musik aus den 80ern und 90ern lief. Es fühlte sich an wie die Abiturfeier, die aber jetzt auch schon mehr als 15 Jahre zurück lag.

Als der Abend zu Ende war, Anne und ich unsere Jacken von der Garderobe holen wollten, da spürte ich diesen Blick auf mir. Wir alle kennen das, wenn jemand einen anschaut und man ganz genau weiß, dass man angeschaut wird. Ich drehte mich um. Und da schaute mich Jonas aus seinen blauen Augen an und lächelte. „Brauchst Du noch was Zeit“, raunzte mich die Mitarbeiterin an der Garderobe ab. Ich schüttelte den Kopf, gab ihr meine Marke, sie mir dafür meine Jacke. Dann schaute ich noch einmal zu Jonas. Er auch zu mir.  Anne und ich mussten gehen. Wir durften den Zug Richtung Düsseldorf nicht verpassen.

Jonas war nicht alleine an diesem Abend. Er war in Begleitung einiger anderer Kerle. Manche kannte ich aus zahlreichen Homochats wie auch Marius. Ihn schrieb ich wenige Tage später an, ob er mir die Nummer von Jonas geben könne. Konnte er.

Wieder einige Tage vergingen, dann rief ich Jonas an, wir trafen uns in Köln. Der Nachmittag war wunderschön: Ein Spaziergang durch den Sommer mit kühlen Getränken und liebevollen Blicken. Der Tag ging, der Abend kam. Und damit ein Abendessen, das im Desaster enden sollte. Da geriet etwas, in diesem Fall ich, außer Kontrolle.

„Na, was wirst Du denn in den nächsten Wochen so unternehmen“, fragte ich Jonas. Das war natürlich diese strategische Frage bei einem Date, die man stellt, wenn man ausloten möchte, ob man sich noch ein weiteres Mal sehen wird. „Ich werde am Wochenende in Hamburg sein, bin zu einer Hochzeit eingeladen“, sagte er.

„Oh toll, wie schön, wer heiratet denn?“, fragt ich heuchlerisch. Denn erstens bedeutete das, dass ich Jonas nicht direkt am Wochenende wiedersehen konnte. Zweitens hasste ich Hochzeiten.

„Ach ich kenne die beiden gar nicht so gut. Es sind zwei Männer, zwei Anwälte. Der eine kommt aus Düsseldorf, der andere wohnt in München“, sagte Jonas. Als er mit dem Satz anfing, hatte ich gerade eine Gabel mit Penne Arrabiatta in meinen Mund gesteckt und angefangen zu kauen. Als der Satz beendet wurde, glitt die Nudel gerade in Richtung Kehlkopf und rutsche dann vor Schock in die Luftröhre.

Die Nudel tat das, was sich gerade in diesem Moment ereignete. Bei diesem Date ging jetzt etwas in die ganz falsche Richtung und nahm einen ganz falschen Weg. Und meine Nudel im Hals gab mir zu verstehen: Aufstehen, weglaufen, kotzen, atmen, klarkommen, weitermachen. Das einzige, was ich noch am Tisch rausbekam. „Bin gleich wieder da“. Dann sprang ich auf, raste zur Toilette. Dort steckte ich mir den Finger in den Hals, tief bis zum Brechreiz und wenige Sekunden später lagen die Penne Arrabiata erbrochen in der Kloschüssel. Ich starrte vor mich hin, auf dieses erbrochene Essen.

Ich ging zurück zum Tisch, ließ mir nichts anmerken. Sagte, dass alles wieder in Ordnung sei, ich mich nur unheimlich verschluckt hatte. Wir zahlten die Rechnung, gingen noch ein Bier in einer Bar trinken, dann trennten sich Jonas und meine Wege.

Vierzehn Tage vergingen, immer mit dieser leisen Vorahnung im Kopf: Er ist zur Hochzeit meines Ex-Freundes eingeladen. Oder? Der Mann, der mich monatelang betrogen hatte, bevor er am Telefon mit mir Schluss machte und mir die Schuld für die Trennung gab.

Und die Vorahnung erhielt ihren Beweis bei einem weiteren Treffen mit Jonas. Wir trafen und diesmal bei ihm zu Hause. Ich wollte ihn wiedersehen. Es kribbelte, wenn ich an ihn denken musste. Und ich konnte mir ja immer noch nicht so ganz sicher sein, ob er tatsächlich meinen Ex kannte.

Wir saßen in seinem Wohnzimmer. Er hatte Kaffee gekocht und Kuchen besorgt. Wir unterhielten uns über belanglosen Kram: Beruf, Urlaub, Ausstellungen – die Besonderheiten des Rheinlandes und wie er nach Köln kam und warum ich in der Mittelstadt lebe. „Ich muss mal zur Toilette. Wo ist die denn?“, fragte ich. „Tür raus, dann rechts Richtung Küche, vorher scharf links die Tür nehmen, da ist das Klo“, sagte er.

Ich hatte gerade die Tür aus dem Wohnzimmer heraus passiert, dann blickte ich direkt auf den Kühlschrank in der Küche. Und da war er, der Beweis: Eine Einladungskarte. Vorne drauf zu sehen war mein Ex mit dem Mann, mit dem er mich betrogen hatte und den er jetzt heiraten wollte. Mein Puls wurde schneller, der Hals heiß, die Beine ein wenig wackelig. Ich ging auf Toilette und schaute in den Spiegel und da war nur diese eine Frage in meinem Kopf: Warum muss ausgerechnet dieser tolle Mann, der im Wohnzimmer nebenan sitzt, den Mann kennen, den ich zu diesem Zeitpunkt am allermeisten verabscheut habe?

Ich ging zurück ins Wohnzimmer, setzte mich neben Jonas und bekam kein Wort mehr raus. Jonas rückte näher, kuschelte sich an mich und gab mir einen Kuss. „Jonas, ich muss jetzt nach Hause fahren. Das war ein toller Nachmittag, aber es wird jetzt Zeit für mich“, stammelte ich. Er schaute mich an, die Stirn warf Falten vor Verzweiflung, vor Traurigkeit. Es war dieser Blick, der kaum auszuhalten ist, wenn man ihn sieht. Aus den Augen spricht diese unglaubliche Traurigkeit, die entsteht, wenn man jemandem etwas wegnimmt, was ihm gerade sehr viel bedeutet. „Aber ich dachte, wir machen und noch einen schönen Abend, ich hab noch Sekt im Kühlschrank“, sagte er.

„Du bist süß. Aber den können wir ja beim nächsten Mal trinken. Aber ich muss jetzt wirklich gehen“, sagte ich und dachte nur: Bitte nicht noch einmal zum Kühlschrank. Ich zog meine Schuhe und meine Jacke an, gab Jonas einen allerletzten Kuss.

Tage, Wochen, Monate vergingen. Ich schrieb einen Brief, in dem ich Jonas versucht habe, mich zu erklären. Es war der übliche Inhalt: Dass das alles nichts mit ihm zu tun habe, aber dass ich gerade in einer komischen Phase steckte. Es war die geballte Ladung Floskelmüll, den man immer von sich lässt, weil man meint, dass man damit gut aus der Sache rauskommt und damit der andere sein Gesicht nicht verliert und wieder gerade stehen kann. Aber tief im Herzen weiß man, dass das nicht stimmt. Und dass gerade diese Briefe es nicht gut machen können.

Sechs Jahre später nagte das schlechte Gewissen immer noch an mir, weil ich diesen Mann so schlecht behandelt hatte, nicht die Wahrheit gesagt habe, warum ich auf einmal gehen musste, warum ich mich nie wieder danach gemeldet habe, warum dieser eigentlich tolle Nachmittag so enden musste – mit einem allerletzten Kuss.

Ich durchsuchte mein Handy. Und da war sie noch gespeichert, die Nummer von Jonas. Es dauerte noch zwei Wochen, dann gab ich mir einen Ruck und rief an: „Hallo“, hörte ich ihn. „Jonas bist du das? Hier ist Benjamin“, sagte ich. Schweigen am anderen Ende. Ich dachte mir, dass er sich wohl kaum noch erinnern kann. „Benjamin aus Ratingen, vielleicht kennst Du mich noch“, sagte ich.

„Ach ja, doch ich erinnere mich. Das ist aber Jahre her. Meine Güte warum rufst du an“, fragte er.

„Ja, weißt Du Jonas, also es ist wie folgt: Ich habe dir ja damals einen Brief geschrieben und versucht mich zu erklären, warum ich mich nicht mehr gemeldet habe“, sagte ich.

„Stimmt. Das fand ich auch voll toll von Dir. Macht ja nicht jeder“.

„Naja, das war nicht toll Jonas, das war scheiße, weil es gelogen war. Und es nagt an mir. Der Grund, warum ich damals so schnell ging und mich nicht mehr gemeldet habe, war der, dass Du auf der Hochzeit meines Ex eingeladen warst und ich damit gar nicht umgehen konnte. Das war ein Schock für mich.“

Ich hatte es ausgesprochen, das Herz pochte heftig in meiner Brust.

„Mensch Benjamin, das hättest Du mir doch sagen können. Warum hast Du das denn nicht gesagt. Ich hätte das doch verstanden. Aber ich danke Dir. Wahnsinn von Dir, dass Du das jetzt noch mir sagen wolltest. Ich danke Dir“, sagte Jonas.

Das Herz schlug nun langsamer. Wir unterhielten uns wieder über unverfängliche Dinge bis zu seiner Frage: „Und was ist bei Dir in Sachen Beziehung so los?“

Ich erwiderte: „Gar nichts. Ich bin immer noch Single. Du kennst das Spiel ja und wie ist das bei Dir?“

„Ach weißt Du, ich bin seit kurzem mit einem ganz tollen Mann zusammen. Aber ich muss nach zwei Jahren Singledasein mich erst mal wieder an dieses Geborgenheitsding gewöhnen. Aber es ist schon schön.“

Eine halbe Stunde Telefonat später legten wir die Hörer auf. Damit begannen die großen Liebesgefühle wie in einem Hollywoodfilm – nicht für mich, aber für Jonas und seinen neuen Mann.

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